Depardieu und die Thekinette: ein Blick in die Augenklinik

Gestern als Notfall in meiner HNO-Praxis gelandet – fiese, manchmal bleibende, manchmal einschießende Schmerzen seit Tagen. Ohr(en) okay. Und ich höre besser als der Durchschnitt. Aber die Knorpel gehen immer mehr kaputt. Und die Nerven spielen nun offenbar verrückt. Das tolle Ärzte-Ehepaar überlegt, was ich tun kann. Heute genau das Gegenteil erlebt. Notfall Auge.

Nach dem Besuch beim Augenarzt, der letze Woche nichts außer benetzendem Gel gebracht hat (dass das nicht hilft, weiß ich seit Wochen …), bin ich heute Nacht fast irre geworden. Schmerzen wie Hölle, Augen verklebt, Flecken und grelle Punkte gesehen …

Bild/Copyright: Petra Busch

Also um halb sechs aufgestanden, Katzenbande versorgt, um 8 Uhr in der Augenklinik gewesen.

Erster Stock. Anmeldung. Begrüßung einer sichtlich miesest gelaunten Mitarbeiterin: „Was ist los?“
Ich: „Ähm, guten Morgen. Ich will mich anmelden. Das ist doch die Anmeldung?“ Leicht irritiert noch kurz meine Beschwerden geschildert. Und der Thekinette mitgeteilt, dass ich das Ehlers-Danlos-Syndrom habe und es da leider rasch zu Netzhautablösungen und Linsenverschiebungen kommen kann – mit genau meinen derzeitigen Symptomen.
Thekinette: „Überweisung!“
Ich schieb den blassrosa Zettel über den Tresen.
Thekinette blafft laut: „Die nehm ich nicht.“
Ich: „Was ist das Problem?“
Thekinette: „Die ist vom Hausarzt.“
Ich: „Äh, ja. Das weiß ich.“
Thekinette: „Die nehm ich nicht.“
Ich (wahrheitsgemäß): „Hören sie mal, die habe ich extra gestern geholt, nachdem es mir da schon schlechter ging. Ich hatte davor noch hier bei Ihnen angerufen wegen eines Termins  Ihre Kollegin sagte, ich kann zwischen 8 und 11 Uhr kommen und soll eine Überweisung mitbringen.“
Thekinette: „Sie lügen.“
Ich fassungslos: „Wie bitte?“
Thekinette: „Sie können wieder gehen.“
Leider steht sie zu weit weg, als dass ich … äh, nein. „Sie wollen mich allen Ernstes wieder wegschicken? Mit Verdacht auf Netzhautablösung? Und das, wo ich gestern extra noch angerufen, dann die Überweisung besorgt habe und jetzt eine Stunde mit Matschauge hergefahren bin und –„
„Die muss vom Augenarzt sein. Nicht von der Allgemeinmedizin!“ Sie knallt mir den rosa Zettel hin. „Das nehm ich nicht.“
Ich stelle mich kerzengerade hin: „Gut. Dann bin ich jetzt ein Notfall ohne Überweisung.“
Sie platzt fast in ihrem weißen Leinenkleidchen.
Ich lege ihr meine Versichertenkarte hin und sage: „DOKTOR Busch. Und ich bin ein DRINGENDER Notfall.“ (Das war einer meiner seltenen klaren Momente in solchen Situationen – normalerweise würde ich da ganz klein wieder abziehen oder anfangen zu heulen. Aber man lernt ja dazu mit einer seltenen chronischen Erkrankung).
Sie nimmt die Karte. Liest. Schnaubt. „Nehmen sie draußen Platz“.

Tatsächlich komme ich recht zügig dran – obwohl schon über 30 Leute vor mir da sind. Zunächst dürfen sich ein Herrchen-Hund-Gespann von Arzt im Praktikum und Student an mir austoben. Herrchen mit fluffiger VolaHiku-Plüschfrisur, was ihn alle zehn Sekunden zu einer schwungvollen Haare-aus-Augen-streich-Bewegungen zwingt. Halb so alt wie ich der Knabe. Höchstens. Dafür doppelt so schlau. Mindestens. EDS? Ja ja, kenne ich. Er lächelt mich unter seinem Augendeckhaar hervor an, während der hinter ihm herdackelnde Hund rasch auf einem Tablet herumpfotet und dem Herrchen dann mit Schreckensmiene irgend etwas auf dem Monitor zeigt und sagt: „Echt übel, oder?“ Kommunikationspsychologisch ist da noch Luft nach oben. Herrchen schüttelt statt einer Antwort Haare aus dem Gesicht, seufzt (ge)wichtig und geht an das klingelnde Telefon. Ich erfahre alle Details des Herrn G. und seines Arbeitsunfalles, inklusive Medikation, Prognose, Arbeitgeber, Adresse und Geburtsdatum.

15 Minuten später haben Herr und Hund festgestellt, dass ich kurzsichtig bin und die vierte Zahlenreihe von unten nicht mehr lesen kann. Ich werde deutlich. Deutlich deutlicher als die vierte Zahlenreihe von unten. Sitz! Platz! Guck Netzhaut!

Herrchen pustet sich wieder Plüschhaar aus dem Gesicht, ich sehne mich nach einer großen Schere, doch dann schaut er endlich nach Netzhaut und Linsen. Macht er auch sehr gut. Abgesehen von einem weiteren Telefonat, während ich mit höllisch erweiterten Pupillen hinter der Spaltlampe hänge und warte. Dieses Mal geht’s um eine Ophthalmologen-Kollegin. Nein, er hat sie nicht gesehen. Aber Frau Dr. A. trinkt gegen 9 Uhr immer einen Espresso in der Caféteria. Vielleicht da mal suchen? Okay. Leckerlis sind gestrichen.

Bild/Copyright: Petra Busch

Eine halbe Stunde später darf ich „zum Professor“. Erdgeschoss. Vor mir sitzt Gerard Depardieu im grünen OP-Outfit, um ihn stehen sieben weißbekittelte Herren plus Herrchen. Dass Gerard dünner als das Original ist und ich von seiner Erscheinung krass geblendet bin, muss am Pupillenerweiterer liegen. Drei Sekunden pro Auge. Dann redet er mit den anderen Weiß-, Grün- und Blaukitteln über mich. Nicht mit mir. Sicca. Stauchungsfalten. Und irgendwas, das ich nicht verstehe. Meine zwei Zwischenfragen werden vom Gremium ignoriert und man diskutiert über die Medikation. Dann dreht Depardieu im Chefsessel sich zu mir. „Nehmen Sie Salagen und Ikarvis. Aber erwarten Sie keine Wunder. Das verschreibt Ihnen der Augenarzt.“ Er gibt mir die Hand, ich lächle und wünsche mir ein Shampoo, das ich ihm als kleines Dankeschön vermachen könnte. Ich werde hinausbugsiert.

Herrchen deutet mit dem Kinn an, ihm die Treppe wieder hinauf zu folgen und jagt vor mir her. Während meine jaulenden Knie noch die Hälfte der Stufen schaffen müssen, steht er längst oben und trommelt mit den perfekt gefeilten Fingernägeln auf das Geländer. Neben ihm taucht der Hund auf und textet hechelnd auf ihn ein. Bis ich oben bin, sind beide weg. Ich blicke mich um. Und sehe sie direkt auf mich zueilen: die Thekinette. Sie halt mir ein Blatt vor die Nase. Die Bestimmungen über das Verbot der Annahme nicht-augenfachärztlicher Überweisungen, denke ich. Aber es ist nur mein Notfallbehandlungszettel. „Da!“ Das weiße Leinenzeug blendet mich. „Danke“, sage ich doch sie hat schon auf dem Absatz kehrt gemacht.

Tja. Das war’s. Netzhaut und Linsen sitzen. Das ist gut. Der Rest? Keine Ahnung. Mit dem Notfallzettel setze ich mich zwei Stunden ins Klinikcafé, bestelle einen Espresso, überlege, ob Frau Dr. A. noch an einem der Nebentische sitzt und warte, bis meine Pupillen wieder normal sind.

Vielleicht sieht der Rest des Tages dann besser aus.

 

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