Von der eingebildeten Kranken zur Hochrisiko-Patientin in einem Jahr
Heute war es mal wieder soweit: eine Klinik-Klassiker vom Feinsten. Investiert: acht Stunden Kraft und Zeit. Erhalten: null Hilfe trotz guter Ärzte. Nach Hause geschickt, weil ich eine Risikopatientin bin. Da traut sich keiner dran. Im Frühjahr noch hat mir so gut wie kein Arzt geglaubt, dass ich auch nur den Hauch einer ernsthaften Erkrankung habe. „Das ist alles nur in Ihrem Kopf“ oder „Sie steigern sich da in was rein“ – das waren Standardsprüche. Jetzt sehe ich betroffene Gesichter und höre Sätze wie: „Narkose, oh, das lassen wir lieber. Das kann bei Ihnen leicht in einer Reanimation enden“, oder „Wir können die intraoperative Lagerung Ihren Symptomen nicht anpassen, tut mir leid.“
Einbestellt bin ich zur prästationären Vorbereitung einer Panendoskopie. Also einer Endo des Kehlkopfes. Plus Hals-MRT mit Kontrastmittel. Beides soll morgen stattfinden. Die Endoskopie benötigt eine Vollnarkose. Den Termin dazu habe ich Mitte August schon vereinbart. Weil es ein anstrengender Tag werden wird – zwei bis drei Stunden sollen die Vorbereitungen dauern –, trage ich den Vista Collar, eine steife, große Halskrause. Unbequeme Stühle und viel Warterei, ein Hin und Her zwischen den Stationen der Klinik, über der schmerzenden Schulter die große Tasche mit den Vorbefunden, das ist ohne Bandagen & Co. nicht mehr zu machen.
9 Uhr. Anmeldehalle.
Statt Wartenummern gibt es fingerdicke, handtellergroße Plastikscheiben. Sie stecken auf einem Spieß vor der Zimmer „Patientenaufnahme“. Der Wartende neben mir dreht die gelbe Scheibe zwischen schweißigen Fingern, und mehrmals rutscht sie ihm zwischen die Beine. Er pult sie immer wieder hervor, dreht sie erneut zwischen den Fingern. Schräg gegenüber schneuzt sich eine Dame mit hochtoupiertem schwarzem Haar und dunkelrotem Lippenstift in ein Papiertaschentuch – mit dem sie dann die Nummer festhält. Bestimmt, um sich die Bakterien der Vor-Nummernbesitzer vom Leib zu halten. Ich sehe weg und frage mich, ob die Dinger desinfiziert werden, bevor sie wieder auf dem Spieß landen.
Als eine dicke Dame aus der Patientenaufnahme tritt, meinen Namen durch die Halle schreit und drinnen meine Daten aufnimmt, frage ich, ob sie die Vorbefunde brauchen. Besonders das des letzten Hals-MRTs, das erst vor acht Wochen war. Die CD habe ich auch dabei. Ob sie die einlesen wollen? Muss überhaupt schon wieder ein MRT angefertigt werden? Die Dame winkt ab und lächelt mit wulstigen Lippen. Dabei schnuppere ich einen Hauch von Zedernholz. Ich soll das mit den HNO-Ärzten besprechen. Sie liest nichts ein. Sie drückt mir ein DIN-A-4-Blatt mit Textzeilen in die Hand hinter jeder Zeile ein Kästchen zum Abhaken. Der Laufzettel mit den fünf Stationen, die ich heute zu absolvieren habe:
Anästhesie, Blutabnahme, EKG, HNO, Radiologie. So der Plan.
9 Uhr 30. Narkosevorgespräch.
Ich sitze in einem schmalen Flur und fülle den Anästhesie-Fragebogen aus. Es riecht nach Krankenhaus, dieser typische Geruch nach Reinigungsmittel, Metall und Bohnensuppe. Immer wieder fällt mein Blick auf den Boden vor mir, wo ein fetter blauer Pfeil mit der Aufschrift „Narkose“ zum Zimmer der Ärztin zeigt. Die kommt auch gleich heraus und lotst mich fröhlich in ihr winziges Zimmer. Die kleine Frau mit den langen, hellbraunen Haaren ist mir sofort sympathisch. Sie wirkt herzlich, rundlich, strahlt Wärme aus, wie sie da am Schreibtisch sitzt und meine Fragebogen liest, während ich durchs Fenster hinaus auf die verschmutzte Wand der Klinik schaue und in die Zimmer, in denen Leuchtstoffröhren kalt über den Galgen der Krankenbetten flackern.
Die Anästhesistin blickt auf. Ihr Lächeln ist verschwunden, und sie fragt nach meinen Vorgefunden. Ich lege den Leitzordner vor sie. „Da haben Sie ganz schön was zu tragen. Meine Güte“, sagt sie schließlich. „Und das mit einundfünfzig. Das ist ja noch kein Alter.“ Schlagartig fange ich an zu heulen. Wie so oft, seit die EDS-bedingten Komplikationen so sich so rasant vermehren und voranschreiten und jemand meine Not erkennt. Die Ärztin nimmt meine Hand. „Aber das Leben ist immer noch lebenswert“, sagt sie. Ich antworte nicht. Sie nickt. Versteht. Reicht mir ein Taschentuch aus einer Pappbox.
Als ich mich beruhigt habe, erklärt sie mir, dass eine Narkose bei mir ein hohes Risiko bedeutet. Mittalklappenprolaps, hochgradige Kompresssion der Bauchaorta, Stenose der Nierenvene, posturales orthostatisches Tachykardie-Syndrom (POTS), Zwerchfellriss mit Thoraxmagen, mehrere Medikamentenunverträglichkeiten, kein Ansprechen auf viele Narkotika – das sind kardiale oder allergische Komplikationen zu erwarten. Selbst mit vorheriger Gabe von Histamin-1- und Histamin-2-Hemmern sowie Cortison, mit Relaxometrie beim Aufwachen und Tragen des Vista Collars während der Panendoskopie kann das Risiko nur wenig gesenkt werden. „Narkose kann bei Ihnen leicht in einer Reanimation enden.“ „Das weiß ich“, antworte ich und frage, ob sie die „Handlungsempfehlungen zur Anästhesie bei Patienten mit Ehlers-Danlos-Syndrom“ kenne. Sie verneint, und ich gebe ihr einen Ausdruck. Sie liest. „Das ist ja toll, dass es so etwas gibt. Da war mir vieles überhaupt nicht bewusst. Auch nicht, was EDS wirklich bedeuten und mit Menschen machen kann. Kann ich den Ausdruck behalten?“ Natürlich kann sie. Ich freue mich ehrlich, dass eine Medizinerin sich dafür interessiert und das alles ernst nimmt. Das ist viel, viel, viel zu selten.
Wir vereinbaren, dass ich mit den HNO-Ärzten spreche und die dann entscheiden, ob die invasive Diagnostik durchgeführt wird oder nicht. Für sie stelle die Narkose schon mal ein zu hohes Risiko dar. Eines, das nur im Notfall eingegangen werden sollte.
10 Uhr. Blutabnahme.
Ein junger Mann mit Igelfrisur und Pferdezähnen tippt mit dem Zeigefinger in meinen Armbeugen herum. Dabei redet er viel, sehr viel, grinst ein tolles Pferdegrinsen, aber sein starker Akzent lässt mich nur die Augenbrauen hochziehen und fragend gucken. „Super, super“ ist alles, was dem Deutschen halbwegs nahekommt. Ich warne ihn vor, dass jeglicher Pieks bei mir immer sakrisch weh tut, weil durch das dünne Gewebe sofort die Nadel im Gefäß anliegt. „Ich schreie da immer, aber das liegt dann nicht an Ihnen, denken Sie sich nichts dabei.“ Er grinst und nickt. „Super, super.“ Ich nicke auch, schließe die Augen und warte, dass der Schmerz einschießt. Und da kommt er: der Pieks. Sanft und schmerzlos wie seit einem Jahr in gefühlt fünftausend Blutabnahmen nicht mehr. Ungläubig öffne ich die Augen. Der Schlauch steckt, und der junge Mann zapft lachend ein Röhrchen nach dem andern mir meinem dunklen Blut voll, „super, super“, und fertig bin ich. Er verpflastert mich, geht zur Tür, winkt mich zu sich und zeigt in den Flur, der rechts abgeht. „Herz“, sagt er und grinst ein letztes Pferdegrinsen, ich grinse zurück, „Super gemacht, danke!“, und wackle mit schmerzenden Hüften Knien und Sprunggelenken Richtung des Schildes „Wartebereich EKG“.
10 Uhr 30. EKG.
Ob ich mehr Blutabnahmen oder EKGs durch habe im vergangenen Jahr? Ich weiß es nicht. MRTs, CTs und Röntgen stehen beidem wohl auch nicht nach. Ich zähle alles in Gedanken, während ich mal wieder im Ruhe-EKG liege. Eine Pflegerin sprüht eiskaltes Desinfektionsspray auf den Oberkörper und klebt routiniert die Elektroden auf Schultern, rechten Oberbauch, linken Unterbauch, Brust, Rippen und meine linke Seite. Kurz darauf gibt sie mi den EKG-Ausdruck und schickt mich zurück zur Anmeldung. Unterwegs werfe einen Blick auf den Ausdruck: Nichts als schöne, gleichmäßige Sinusrhythmen. Mein oft auftretendes Herzstolpern, Herzrasen und den pathologischen Anstieg des Blutdrucks beim Aufstehen (POTS) sieht man im EKG nicht. deswegen glaub(t)en die Ärzte immer, da sei nichts. Außer in meinem Kopf natürlich …
Die Dame an der Anmeldung will mich in die Radiologie schicken. Ich frage noch einmal, ob denn das MRT wirklich nötig sei, weil ich es ja schon vor acht Wochen …? „Das brauchen die für die OP morgen.“ „Ich hab aber keine OP. Nur eine Endoskopie des Hals-Rachenraumes.“ Sie telefoniert. „Doch, das zählt als OP und die brauchen da das MRT. Sie sollen jetzt aber doch zuerst in die HNO gehen, der Arzt hat gerade Zeit für Sie und beim MRT ist gerade alles voll.“ Prima, denke ich, läuft doch alles.
10 Uhr 50. HNO die Erste.
Zwei Stockwerke höher, HNO-Station, vor dem Stationszimmer sind zwei Stuhlreihen – der Wartebereich für die OP-Vorbereitungsgespräche liegt mitten in der Station. Ich sinke auf den nächsten freien Stuhl. Er ist hart und genauso unbequem wie die bisherigen. Vier Leute warten vor mir. Hieß es nicht, der Arzt habe gerade Zeit für mich? Na gut, vielleicht warten die ja auf was anderes. Einen Verwandten, der stationär hier liegt und gerade Visite hat, einen Kaffee oder aufs Christkind.
Ein Junge auf den Stühlen mir gegenüber starrt mich an, ich starre zurück. Mal sehen, wer länger durchhält. Dann fragt es seine Mutter, was „die Frau da“ am Hals hat. Die Mutter dreht das Kind ohne Kommentar zur Seite. Auch so ein Klassiker. „Sie können ruhig fragen“, sage ich, „die Halskrause beißt nicht.“ – „Tut mir leid“, sagt die Mutter und verschwindet samt dem Jungen in einem der Flure. Umso besser, nur noch drei Patienten vor mir. Ich hole mein Handy heraus und lese die Chatnachrichten meiner Zebragruppe. Das sind ein paar Menschen mit EDS, mit denen ich mich täglich austausche. Das ist wichtig, das tut gut. Kaum jemand außer ihnen versteht, was die Krankheit wirklich bedeutet und welch weitreichenden Konsequenzen sie hat. Nach einer Stunde wartet nur noch ein Patent vor mir. Sie warteten tatsächlich alle auf denselben Arzt wie ich. Der scheint sich sauf jeden Fall Zeit für die Leute zu nehmen. Immerhin.
Genau als der letzte Wartende hereingerufen wird, eilt ein vollbärtiger Mann aus dem Stationszimmer heraus und auf mich zu. „Frau Busch?“ – „Ja?“ – „Sie sollen gleich in die Radiologie kommen. Das MRT ist frei, die warten auf Sie.“ Ich schaue auf die Tür des Untersuchungszimmers, schaue auf die leeren Stühle im Wartebereich und frage noch einmal, ob das MRT wirklich … Und ob er nicht einen der HNO-Ärzte kurz danach fragen könne? „Wenn das auf Ihrem Zettel steht, müssen wir es machen.“ Er nickt zu dem Laufzettel, der auf meinem Schoß liegt und beschreibt mir den Weg hinunter. „Und im Keller immer der gelben Linie auf dem Boden nach.“
12 Uhr 20. Radiologie.
„Wo wollen Sie hin?“, fragt eine Schwester, als die gelbe Linie endet und ich die Röntgenabteilung erreicht habe. „Ich soll zum MRT kommen, die HNO schickt mich.“ Sie hebt die Augenbrauen. „So einfach geht das nicht. Da müssen Sie sich erst anmelden.“ Sie zeigt mir einen offenen Bereich mit Tresen etwas entfernt. Anmelden. Aha. Ich betrete den Anmeldebereich. Zwei Korbstühle, Glastischchen, Illustrierte. Am Tresen sind die Glasscheiben zugeschoben. Ein Schild informiert mich, dass ich Platz nehmen soll, ich bin gleich wieder für Sie da.
Ich sehe mich um, suche die versteckte Kamera. Die rufen in der HNO an, dass sie jetzt auf mich warten. Und dann steh ich im wahrsten Wirtsinn allein auf weiter Flur? So langsam werde ich richtig wütend. Ich bin müde, ich kann kaum noch geradeaus gucken. Ich habe Durst und muss pinkeln. Denn ja, auch meine Blase ist vom Ehlers-Danlos-Syndrom betroffen, und ohne Örtchen um die Ecke wird’s sehr schnell sehr doof. Also laufe ich im Flur hin und her statt Platz zu nehmen. Langsam, vorsichtig, um nicht wegzuknicken. Endlich. Eine Frau in blauem Klinik-Outfit rauscht ums Eck. Ich erkläre ihr kurz meine Lage, sie kümmert sich, und kurz darauf sitze ich mit leerer Blase in der Umkleidekabine vor dem MRT-Raum. Ein letzter Versuch, als die Röntgenassistentin mir den Fragebogen zur Untersuchung in die Hand drückt: „Muss das MRT wirklich sein? Weil…? Und wenn ja, dann brauche ich 30 Minuten vorher einen H1- und einen H2-Hemmer und direkt vor dem MRT Cortison. Alles intravenös. Sonst müssen sie hinterher den MR-Tomographen von meinen Frühstücksresten befreien.“ – Die Frau lacht. „Ich Ihnen schicke Rrradiologin. Ziehen schon Hemd fürrr Untersuchung an. Liegt vor die Kabine.“ Russisch? Polnisch? Kroatisch? Auf jeden Fall nett. Mit dem Klemmbrett auf dem Schoß trage ich alles Wichtige in den Fragebogen ein, ziehe Pullover, Shirt und BH aus und das kratzende Krankenhaushemd an und liege quasi schon auf dem MRT-Schlitten, als eine klapperdürre Frau hereinkommt und sich an die Wand lehnt. Aussehen wie Schneewittchen, Charakter wie die böse Königin. Sie verschränkt die Arme. „Ich bin die Radiologin. Was machen wir?“
Wir! Ich atme ganz tief durch und erkläre, was gemacht werden soll. Dass ich dazu H1- und H2-Hemmer brauche oder genauer: vor 30 Minuten gebraucht hätte. Und dass ich da ohne nicht reinfahre, es sei denn, wir machen das Ganze ohne Kontrastmittel. Dass ich selbiges Ganze aber für unnötig halte, weil ja schon im September ein MRT gemacht wurde. „Vom Hals?“, blafft sie, und ihre Stimme ist kälter als der heliumgekühlte Elektromagnet im Kernspintomographen mit seinen minus 269 Grad Celsius. Ich bin versucht zu fragen, ob sie immer so eisig ist, oder ob es nur heute an etwas Wärme fehlt. Statt dessen sag ich einfach „ja“. – „Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?“ – „Habe ich. So vier bis fünf Mal. Wollte aber niemand was davon wissen.“ – „Und deswegen wollen Sie noch mal ein MRT haben oder wie?“ Wäre ich nicht so erschöpft, voller Schmerzen und frustriert, ich hätte der Frostfrau vermutlich richtig Feuer unter dem dürren Hintern gemacht. Mittlerweile kann ich aber nicht mal mehr geduldig lächeln. Ich kann gar nichts mehr, nur teilnahmslos abwarten, was als Nächstes kommt. Erst als sie mich anweist, durch die halbe Klinik zum Empfang zurückzulaufen und die CD einlesen zu lassen (sie will selbst sehen, dass das stimmt, was die Kollegen im September berichteten, dass nämlich nichts auffiel im MRT – weil bei hypermobilen Strukturen meist nur bewegte Bilder die Zerstörungen aufzeigen können) –, kehren kurz noch einmal einmal ein paar Kräfte zurück. „Schicken Sie jemand anders.“ Die Röntgenassistentin, die alles beobachtet hat, eilt mir zur Hilfe. „Sind Sie nicht ihre erste Opfer“, flüstert sie mir zu, und rund 20 Minuten später hat Frau Radiologin die Bilder vom September angesehen. „Da ist nichts Ungewöhnliches drauf zu sehen. Wir brauchen kein MRT.“ Sie zerreißt meinen Fragebogen. Halleluja.
13 Uhr 10. HNO die Zweite.
Ich sitze auf demselben Stuhl wie vor fast 2,5 Stunden. Neben und gegenüber von mir elf Leute. Drei oder vier kommen dran, dann verlässt der HNO-Arzt mit wehendem weißen Kittel und schwarzen Lackschuhen das Untersuchungszimmer. Nichts geht mehr. Nach eineinhalb Stunden gehe ich ins Stationszimmer, wo der Vollbärtige sitzt, der mich vorhin zur Radiologie geschickt hat. Ich erkläre, dass ich nicht mehr sitzen und warten kann. Dass ich für nichts in die Radiologie zitiert wurde und nicht einsehe, erneut stundenlang warten zu sollen. Dass meine Termine alle zwischen 9 und 12 Uhr hätte stattfinden sollen und es jetzt fast 15:00 Uhr ist. „Ja, ja, ich weiß. Sie haben auch Recht und Sie kommen als nächste dran. Aber die Ärzte sind jetzt alle im OP.“ – „Bitte? Mitten in der Sprechstunde? Alle Ärzte im OP?“ Er zuckt mit den Schultern und wendet sich einem PC zu. Ich setze mich draußen wieder hin. Chatte mit meinen Mit-Zebras. Bin völlig deprimiert. Mein Körper fühlt sich an wie vom Zehntausend-Tonner überrollt. Ich kann die harten Stühle nicht mehr ertragen, kann nicht mehr stehen vor Schmerzen, nicht gehen vor Instabilität und nicht mehr denken vor Durst. Ich beschließe, nach Hause zu gehen. Wozu warten, wenn das alles ohnehin ein zu großes Risiko ist. Noch während ich den Entschluss fasse, nicke ich ein.
Das Klappern von Schuhen und lautes Stimmengewirr weckt mich auf. Der HNO-Arzt ist zurück, und die anderen Wartenden reden alle gleichzeitig auf ihn ein. Mir ist schwindelig. Die Wanduhr neben dem Feuerlöscher zeigt Zwanzig vor Vier. Der Arzt verschwindet in Untersuchungszimmer eins, ein zweiter, junger Mediziner geht ins Untersuchungszimmer zwei. Patienten werden aufgerufen. Irgendwann bin auch ich drin. Zimmer zwei. Erzähle gerade von meiner Grunderkrankung Ehlers-Danlos-Syndrom und dass ich nur noch schwer schlucken kann, hässliche Geräusche beim Schlucken und nonstop Halsschmerzen habe, als das Telefon des Assistenzarztes klingelt. „Ja. – Mhm. – Ja, ich komme.“ Er lässt das Mobilteil in eine der riesigen Arztkittel-Taschen fallen und steht auf. „Sorry, ich muss noch mal weg, ich bin aber bald zurück.“ – „Nicht Ihr Ernst jetzt? Ich warte seit mehreren Stunden, und jetzt …“ – „Es tut mir wirklich leid.“ Er geht hinaus. Ich lehne mich in dem riesigen schwarzen Untersuchungsstuhl zurück. Wenigstens ist der weich und ich kann den Kopf anlehnen. Der Vista Collar drückt hart in den Hinterkopf. Was soll’s. Ich schlafe wieder ein.
16 Uhr 30. HNO und kein Ende.
„Hallo?“ Ich öffne die Augen. Vor mir steht ein fremder Mann. Ich muss mich orientieren. Ach ja. HNO-Klinik. Der Assistenzarzt. „Alles okay? Entschuldigung, ich wusste zu einem Notfall.“ Ich schaue erst jetzt den Mediziner richtig an. Eine Kopie des Vollbärtigen im Stationszimmer, doch besser als das Original und mit schicker Brille obendrein. Er sinkt auf einen Stuhl. Wir holen parallel tief Luft – und müssen beide loslachen.
Und dann? Folgt ein tolles Gespräch über das Ehlers-Danlos-Syndrom, über die Komplikationen im Hals-Nasen-Ohren-Bereich, den Nutzen und die Risiken einer Panendoskopie. Wie die Anästhesistin kennt der Arzt das EDS. Ist interessiert, zugewandt, fragt, hört zu. Ich lege die Halskrause ab, damit er mich untersuchen kann. Er ist der erste HNO, der nicht abwinkt, sondern den Kehlkopf wirklich anschaut, der tastet, die Stirn runzelt. „Ihr gesamter Kehlkopf ist wirklich extrem beweglich, und man spürt sehr gut, wie es darin schabt und knirscht, dass etwas hüpft, und dass sich da Teile bewegen, die das nicht sollten.“
Wir gehen den siebenseitigen Bericht meines letzten Klinikaufenthaltes durch. Und beschließen dann, die Panendoskopie zu streichen. Aus drei Gründen: erstens das hohe Narkoserisiko. Zweitens die Voruntersuchungen, gegenüber denen keine entscheidenden neuen Erkenntnisse zu erwarten sind. Drittens – das ist für mich der entscheidende Punkt – würde die Endoskopie mit einem starren Endoskop gemacht. Bedeutet: auf dem Rücken mit nach hinten überstreckter Halswirbelsäule liegen, damit das Ding in meinen Rachen kommt. Ein No Go bei instabilen Kopfgelenken. Das wäre so lebensgefährlich wie die Narkose, im besseren Fall kann’s „nur“ Lähmungen und im günstigen Fall vermehrte neurologische und vegetative Ausfälle, Blockaden, grausige Nacken- und Kopfschmerzen, taube Arme und Beine und und und geben. Ne, brauche ich nicht.
Und dann ist da noch das hohe Verletzungsrisiko durch das starre Endoskop. EDS bedeutet schwaches Gewebe, das auf mechanische Einwirkung extrem empfindlich reagiert. und ganz schlecht heilt. Ich will keine aufgerissene und auch keine leicht verletzte Speiseröhre. Ich will überhaupt keine Symptomverschlechterung nur für eine Diagnostik, die ohnehin keine adäquate Behandlung zur Folge hätte, weil es keine gibt.
Als Schnellversion schiebt mir der junge Arzt noch ein Endoskop in die Nase. Wie ein schwarzer Gummiwurm mit vielen Gliedern wandert es bis in meinen Hals hinunter, mir wird schlecht, aber ich halte das und die üblen Schmerzen dabei aus. Froh darüber, dass jemand mal genau schaut. Alles sieht gut aus.
Weil ich schon mal da bin, frage ich nach dem rechten Ohr.
Das tut schrecklich weg, ist aber nicht entzündet. Sagt der niedergelassene HNO, weiß aber nicht weiter. Außerdem fühlt es sich seit Wochen so an, als habe jemand mit der Faust draufgeschlagen. Schmerzen und Druck. Das Richtungshören ist auch fast ganz weg, und ich habe diese blubbernden, „rissigen“, knisternden Geräusche, verbunden mit einem Zucke, alles ganz am Anfang des Gehörganges. Schwer zu beschreiben. Den „summenden Satan“ nenne ich dieses Phänomen, denn es treibt mich manchmal bis an das Tor des Höllenschlunds. Der Assistenzarzt weiß nicht, was es sein könnte und ruft den Oberarzt an. Schuhe klappern. Ein wehender weißer Kittel kommt herein. Der Mann erweist sich als ebenso zugewandt und entschuldigt sich wie sein Kollege zuvor für die Hektik des Tages. Und auch er kennt EDS. Schon bald ist klar: Die Durchlüftung ist rechts im Eimer. Druckausgleich nicht mehr möglich. Daher wohl das Druckgefühl. Und auf dem Trommelfell sitzen mehrere Haare, stellt er fest. Ob das die Beschwerden macht? Eher nicht, denke ich, stimme aber der Spülung meines Ohrs zu. Dazu muss ich draußen noch einmal warten. Als das Wasser mit Druck in mein Ohr rauscht wird mir sofort schwindelig und speiübel. Ich ich halte auch das noch aus. Dann ist’s geschafft.
Der Assistenzarzt will morgen Vormittag noch einmal mit den Radiologen und der Anästhesistin sprechen. Damit nichts übersehen wird. Ich soll gegen Mittag anrufen und dann besprechen wir, wie es weitergeht.
18 Uhr. Home again.
Zehn Stunden nach Verlassen meiner Wohnung parke ich vor meiner Wohnung. Schon als ich die Haustür aufschließe und mir meine Katzen plappernd um die Beine streichen, stimmt der Satan sein Summen wieder an. Die Haare waren natürlich nicht die Ursache für sein Treiben. Ich schließe die Wohnungstür von innen. Fühle mich wie nach einem Zehnkampf. Das Wochenende werde ich komplett zum halbwegs Erholen brauchen. Und zum Sortieren.
In genau einem Jahr von der eingebildeten Kranken, belächelt von Ärzten, die nicht helfen wollen, zur Hochrisiko-Patientin, bedauert von Ärzten, die nicht helfen können …
Da kommt meine Psyche noch immer nicht ganz mit.