Klischee pur: der Heiler und mein dreckiges Chakra

Esoterik & Co. waren noch nie mein Ding. Doch was versucht man nicht alles, wenn’s einem so richtig dreckig geht. Schaden kann es ja nicht. Und er soll ja auch richtig gut sein. Soll quasi verwelkte Todeskandidaten in blühende Lebenskünstler zurückverwandelt haben: der Heiler, zu dem ich vor einigen Wochen ins tiefste Bayern gefahren bin.

Fotos und Montage / Copyright: Petra Busch

Ein alter Bauernhof mit grünen Fensterläden, Holzstapel an der Wand, im Garten Apfelbäume mit winzigen, noch grünen Früchten. Schnatternde Enten, die vor mir her zur Haustür rennen. Es riecht nach Mist und frisch gemähtem Gras. Eine Kulisse wie aus einem Heimatfilm. An der Klingel steht nur der Name. Kein Hinweis auf die Heilpraxis.

Der Mann, der mir öffnet, streckt die Arme aus. „Willkommen, meine Liebe.“ Er drückt mich an sich. Ich bin irritiert. Ich mag es nicht, wenn Fremde mich anfassen. Kurz darauf sitzen wir uns auf grün gemusterten Bodenkissen gegenüber. Er aufrecht im Lotussitz, mit der Figur und dem Lächeln eines Buddhas, ich verkrümmt und Halt suchend, nicht fähig, schmerzfrei zu sitzen. Es ist kühl, obwohl die Sonne durch die Fenster scheint und breite goldene Streifen auf den Holzboden malt. Der Raum ist klein, fuchsia-violett-orange-getüncht. Der Heiler trägt passend dazu ein weiters, orangefarbenes Hemd und violette Pluderhosen. Seine langen graublonden Haare sind zum Pferdeschwanz gebunden. Ein süßlicher Duft hängt zwischen uns, den großen Grünpflanzen und einem bunten Paravent.

Der Heiler lächelt. Ich frage, ob ich einen normalen Stuhl und eine Decke haben kann. „Du wirst gleich zu deiner inneren Mitte finden. Dann wirst du sitzen wie ich und Wärme wird dich durchströmen.“ „Ich kann so nicht sitzen, sonst hab ich noch mehr Schmerzen und vielleicht springt meine Hüfte raus. Ich hätte wirklich gern einen Stuhl.“ Ich vermeide es, Sätze zu bilden, in denen ich den Mann direkt ansprechen muss. Ich will ihn nicht duzen. Aber „Sie“ sagen, während er das „Du“ verwendet, wäre wie Lehrer und Schülerin. Oder es würde eine Distanz demonstrieren, die den „Energiefluss durch heilende Zusammenkunft“, wie er es nennt, vielleicht stört? Man weiß ja nie, so als energetische Laiin.

Er lächelt noch immer, als er sich erhebt und mir mit einer Armbewegung zu verstehen gibt, ihm hinter den Paravent zu folgen. Dort stehen eine Liege, ein Tischchen, auf dem ein schwarzer Kasten mit vielen Kabeln thront, und ein Stuhl. „Lege dich hin, meine Liebe“. Er hantiert an dem Kasten herum. Okay, er wird mich schon nicht mit Strom foltern. Ich krabble auf die Liege. Er setzt sich auf den Stuhl. „Deine Hüfte ist ganz heil. Aber dein Wurzelchakra ist verstopft.“ Ich will protestieren. Meine Hüfte ist ganz sicher nicht heil. Ich denke ans letzte MRT. Ich friere.

Der Mann drückt mir in jede Hand einen Metallstab, beide sind über dicke Kabel mit dem Kasten verbunden. „Muladhara“, sagt er. „Was?“ „Das Wurzelchakra gibt dir Sicherheit und Stabilität.“ Er dreht an einem Knopf und stöpselt irgendwelche Kabel um. Seine Finger sind seltsam schlank für den massigen Körper. „Wir öffnen jetzt erst einmal dein Wurzelchakra, damit du spirituelle Evolution erfahren kannst. Im deinem Wurzelchakra ruht Schlangenkraft.“ „Wie jetzt, Schlangenkraft?“ Ich schiele zu dem Kasten. Nichts als Metall, heraushängende Kabel und zwei Drehknöpfe. „Kundalini-Energie“, sagt er. Ich spüre, wie sich ein großes Fragezeichen förmlich in meine Stirn gräbt.

Er wendet sich mir zu. Seine runden dunklen Augen und die fast spitzigen Ohren erinnern mich an einen Chihuahua. „Fühlst du dich geborgen?“ „Ähm, also im Moment nicht so sehr.“ Warum lügen? Er lächelt ein erleuchtetes Lächeln. „Erzähle mir etwas über die frühkindliche Bindung zu deiner Mutter.“ Peng. Volltreffer. Schlechtes Thema. Gaaanz schlechtes Thema. „Also an die ersten drei, vier Labensjahre kann ich mich nicht wirklich erinnern“, sage ich und überlege, wie irgendjemand diese Frage beantworten soll. Mutterbeziehung gut oder schlecht. „Du hast keine gute Bindung zu deiner Lebensspenderin“, sagt er. Ich schweige. Er dreht sich wieder zu dem Kasten und fummelt am zweiten Drehknopf herum. „Da müssen wir tiefer gehen.“ Pause. Dann: „Jetzt sehe ich es. Deine Mutter liebt dich nicht. Deswegen fehlt dir das Urvertrauen.“ Er sieht mich an. „Dein Wurzelchakra ist sehr schmutzig, da ist es kein Wunder, dass dein Skelett und die Haut und der Darm kaputt sind.“ „Das stimmt so nicht ganz“, versuche ich es. „Ich habe einen Gendefekt, der das alles immer mehr kaputt macht. Ich glaube kaum, dass mein Wurzelchakra da etwas dafür kann.“ Er lächelt und lächelt. Nickt. „Das ist für uns alles kein Thema mehr.“ Wieder das Gefühl eines großen Fragezeichens. „Wer ist ‚uns’ und was ist kein Thema mehr?“, frage ich. „Krankheiten“, sagt er. „Krebs, Autoimmunerkrankungen, Gendefekte, das alles ist nur eine Frage unserer Selbstheilungskräfte. Für uns Heiler und auch die Naturheilkunde längst durch.“ Ich lasse die Stäbe los und richte mich auf. „Das ist ein Irrtum.“ Er blickt auf die Stäbe, die neben mir liegen, dann zu mir. „Du musst es zulassen, dass du deine Krankheit selbst gemacht hast.“

Wieder so ein Moment, in dem ich weiß: Ich bin hier falsch. Und in dem ich mich in den Allerwertesten treten könnte (gelenktechnisch kein Problem bei EDS), denn: Ich hab es doch gewusst. Solche „Heiler“ bislang immer gemieden. So groß also ist meine Not.

Der Mann bedient Klischee. Auf Kosten – in jedem Sinne – verzweifelter Menschen. „Ach, das glauben Sie wirklich?“, frage ich. Scheiß auf die Distanz durch Siezen. „Dass ich meinen Gendefekt selbst gebastelt habe?“ Gehört ja auch zu meinen liebsten Hobbys. Im frühfrühfrühkindlich-vorembryonalen Stadium mal eben eine fiese Genmutation in die Keimbahn packen. „Du bist für alles verantwortlich, was dir widerfährt“, sagt er. „Wenn du es ganz tief im Herzen willst, wirst du wieder gesund. Wie jeder Mensch.“ „Ehrlich? Sie können alles heilen?“ Er nickt. „Wenn du es auch willst. Du musst dich nur mit deinem Bindegewebe aussöhnen.“

Nun gut. Hilfe werde ich hier nicht finden. Aber vielleicht noch ein wenig Amüsement. Also gebe ich mich interessiert. „Und das geht allein mit dem Reinigen der Chakren?“ „Deine feinstofflichen Energiewirbel rotieren gerade sehr, ich kann es in deinem ätherischen Körper sehen“, stellt er fest und beugt sich leicht nach vorn. „Du hast dich entschieden, dich in meine heilenden Hände zu begeben. Lass dich fallen. Nimm Lebensenergie auf.“ Er drückt mich auf die Liege zurück, während ich sage: „Meine Freundin hätte zu Ihnen kommen können.“ Die Eckpunkte sind schnell berichtet. Sandra. Gehirntumor mit 25 Jahren. Direkt am Sprachzentrum. Fünf OPs. Während der letzten Schlaganfall. Koma. Aufgewacht. Lähmungen. Mit 30 gestorben. Der Heiler nickt. „Deine Freundin hat einfach nicht auf ihre Selbstheilungskräfte vertraut. Sie hat sterben wollen.“ Ich denke an Sandras große Augen in den letzten Wochen. Sprechen konnte sie kaum noch. Sie ist fast bis zum letzten Atemzug positiv geblieben. So lang es ging auf Metal-Festivals gefahren. Hat Freunde besucht. Gefeiert, getanzt, geklickert und gelacht. Und wenn andere ihr Bierglas leerten, hat sie ihren Becher voller Tabletten mit Wasser runtergeschluckt. Sandra hat sich über Monate für eine Filmdoku begleiten lassen. Sie hat Dies bisschen Leben mitgenommen, das ihr geblieben war. Sie hat es geliebt. Nein, sie hat nicht sterben wollen.

Ich habe plötzlich keine Lust mehr auf Amüsement. Steige von der Liege. „Dein Wurzelchakra ist noch nicht ganz gereinigt“, sagt der Heiler und hält mir die beiden Metallstäbe hin. „Leg dich wieder hin, werde heil, und bald kommst du wieder und wir reinigen dein Herzchakra.“ „Es wird nicht helfen“, entgegne ich ehrlich. „Weil du keine Verbindung zur höheren Liebe willst.“ Ganz akut will ich nur die Verbindung zum Ausgang dieses Zimmers. Die aufkeimende Wut und Trauer zurücklassen. Ich wackle hinter dem Paravent hervor. Die grün gemusterten Bodenkissen müssen auf bessere Patienten warten als mich. Noch immer ist es mir viel zu kalt.

An der Haustür zaubert der Heiler eine winzige braune Glasflasche aus der Pluderhosentasche hervor. „Deine Globuli, meine Liebe.“ „Was ist da drin?“ „Energie. Die habe ich in den letzten zehn Minuten unserer Zusammenkunft speziell für dich aufgeladen.“ Ich schaue ihn an. Wie er da steht, strahlt, ein gut genährter Ausbund blitzblankpolierter Chakren. Ich denke an Sandras Vater und daran, wie er neben dem offenen Grab steht, sein einziges Kind für immer verabschiedet. Gestrahlt hat er schon lang nicht mehr. „Das macht dann noch zweihundertundvierzig Euro“, sagt der Heiler, als ich das Globulifläschchen nehme und hinaustrete in die Sonne. Der Geruch nach Mist. Frischem Gras. Das Schnattern und Quaken der Enten. Wärme auf meinem Gesicht. Sofort verfliegen Wut und Trauer.

Ich gebe dem Mann das Geld. Er lächelt, nickt und geht hinein. Keine Umarmung, meine Liebe. Ich sage laut „macht’s gut“ zu den Gänsen und kippe die Glubui in den Misthaufen. Wahrscheinlich ist damit mein Wurzelchakra schon wieder komplett verdreckt. Zum Reinigen werde ich dennoch nicht wiederkommen. Und sei das Klischee noch so schön.