Warum Zebra?

Warum (Wackel)Zebra?

Wenn Sie Hufgetrappel hören, denken Sie an Pferde. Nicht an Zebras.

Im Studium lernen Ärzte, dass sie bei Hufgetrappel zuerst an Pferde denken sollen. Also an häufige, bekannte Krankheiten. Nicht an Zebras.

Leider sind bei mir in 17 Jahren über 100 Fachärzte diesem Lehrmotto gefolgt. Keiner zog eine seltene Erkrankung in Betracht. Depressionen wurden mir attestiert. Oder dass ich Schmerz- und Erschöpfungszustände nur simuliere. Auch als Hypochonder wurde ich wieder nach Hause geschickt. Dort saß ich dann und habe geheult. Vor Frust, Verzweiflung und auch vor Wut. Vor Wut auf die Ignoranz der Ärzte und so mancher Freunde. Auf die, die einer erwachsenen Frau absprechen, sich selbst zu kennen und zu wissen, dass da keine Depression oder Arbeitsunlust ist. Im Gegenteil.

Ich war immer eine echte Macherin. Kreativ, engagiert und in den guten Phasen voller Power und Ideen. Ich habe in anstrengenden Jobs in Werbeagenturen gearbeitet, mich später selbstständig gemacht, Bücher geschrieben, hunderte Tier gerettet, aufgepäppelt und in liebevolle Zuhause vermittelt. Ich habe für Kunden aus dem IT- und Medizinbereich geschrieben. War gern joggen, bin stundenlang durch die Wälder gestreift, habe professionell fotografierte und Bilder bearbeitet. Möbel schreinern und Kletterlandschaften für meine Katzen bauen – schöner konnte ich Wochenenden kaum verbringen. Es sei denn, es war gerade ein tolles Literaturfestival, ich war auf Lesereise, habe Abende lang mein Publikum unterhalten oder Seminare gegeben. Zum vollkommenen Glück hat nur noch das selbst renovierte Häuschen im Grünen gefehlt. Mein kleines Schreib- und Tierparadies.

Doch mein Körper hat mich immer wieder ausgebremst, wenn ich’s angehen wollte. Jedes Jahr mehr. Schmerzen überall und bleierne Erschöpfung lähmten mich zusehends. Bis Anfang Oktober 2017, wenige Wochen nach meinem 50. Geburtstag, gar nichts mehr ging. Innerhalb von vier Wochen bin ich zusammengefallen wie ein Kartenhaus. Die Schmerzen und Hilflosigkeit haben mich fast um den Verstand gebracht. Und dann ging es plötzlich ganz schnell.

Ein Rheumatologe stellte die abnorme Überbeweglichkeit meiner Gelenke fest. Der Kardiologe einen Mitralklappenprolaps mit Insuffizienz. Der Radiologe ein grenzwertiges Kaliber meiner Halsaorta. Der Orthopäde eine mehrbogige Skoliose und Hüftdysplasie. Als Medizinredakteurin bin ich mit diesen und weiteren meiner Diagnosen und Symptome dann schnell auf das Ehlers-Danlos-Syndrom gekommen. Und zur Abklärung in die Humangenetik gegangen. Bingo.

Ich war ein Zebra. Nach 17 Jahren Ärzteodyssee hatte ich endlich eine Diagnose. 

Damit fügte sich ein Puzzleteil zum anderen. Mein Anderssein seit Jugend an ergibt nun Sinn: Dass Medikamente gegen Schmerzen bei mir wirken wie Bonbons. Nämlich gar nicht. Dass mein Zahnarzt auch nach fünf, sechs Mal spritzen die OPs ohne Betäubung durchführen musste. Dass ich seit zwanzig Jahren immer wieder therapieresistente, entzündete Sehnen und extrem schmerzende Gelenke habe – über Wochen und Monate. Weshalb meine Füße bei Wärme von einem rotblauen Muster überzogen sind und kleinste Wunden Monate brauchen, um zu heilen. Warum ich oft über Wochen sechzehn, siebzehn Stunden Schlaf brauche, um zu überleben. Weil ich dann wie aus Blei, erschöpft, wie betäubt bin und sogar mitten im Gespräch mit Freunden am Tisch einschlafe.

Schon seit ich denken kann, war ich für Schlangenmensch-Gags gut. Mit durchgedrückten Knien im Stehen die Ellbogen auf den Boden bringen, hops mal in den Spagat springen, Daumen an den Unterarm legen, hinter dem Rücken die Hände wie zum Gebet zusammenlegen, mit dem Kiefer die seltsamsten Verrenkungen und Geräusche erzeugen und vieles mehr – das fanden alle lustig. Ich auch. Wusste ich doch nicht, welche Krankheit hinter meiner Überbeweglichkeit steckt. Mit meinen Schmerzzuständen habe ich meine sogenannte Hypermobilität und die Hautphänomene nie in Verbindung gebracht. Bis zum Oktober 2017.

Es war also genauso, wie ich es immer und immer wieder und vergeblich den Ärzten sagte: Da ist etwas Körperliches. Etwas, das meinen Körper langsam kaputt macht. Eine chronische, progrediente und degenerative Krankheit.

Nein, EDS sieht man nicht. Weder im Blut noch in bildgebenden Verfahren, noch einfach so, wenn man den Menschen anschaut. Doch das Leiden kann enorm sein. Und die Ignoranz vieler Ärzte noch enormer. Es liegt mir fern, einem Mediziner vorzuwerfen, das Ehlers-Danlos-Syndrom nicht erkannt zu haben. Begegnet man „menschlichen Zebras“ ja tatsächlich nicht so häufig. Maximal fünf von 10.000 Menschen dürfen eine Krankheit haben, damit sie als selten gilt. Bei EDS wird angenommen, dass einer von 5000 Menschen betroffen ist. Was sich aber ändern sollte in den Köpfen der Mediziner: einfach mal zugeben, etwas nicht zu wissen. Anstatt die Akten ungerechtfertigterweise mit F-Diagnosen wie Depressionen, Panikstörungen & Co. zu füllen. Denn das kann fatale Folgen für Zebras haben. Und die dringend nötige Behandlung der tatsächlichen Erkrankung verzögern. Auch wenn das Ehlers-Danlos-Syndrom als Gendefekt nicht heilbar ist: Die Symptome müssen dennoch therapiert werden.

Wie ich mich gefühlt habe in den Jahren mit den vielen falschen Diagnosen, mag ich gar nicht sagen. Oft war ich der Verzweiflung nahe. Das bin ich auch heute noch. Vor allem an den Tagen, an denen plötzlich neue Symptome und schlimme Schmerzen hinzukommen. Wieder etwas kaputt geht. Blockiert. Herausspringt. Zerrt, reißt, meine Atmung erschwert, das Herz stolpern lässt, mir tagelang schweren Schwindel, Tinnitus und anderes bereitet … Doch immerhin weiß ich nun, mit was ich es zu tun habe. Dass ich ein großes Streifentier bin. Eines, das mit kaputtem Bindegewebe durchs Leben wackelt, weil galoppieren und traben schon lang nicht mehr möglich sind.

Ich bin ein WACKELZEBRA.